Vor genau 12 Jahren hat der Autor dieses Blogs im Verwaltungsauschuss der Stadt Bad Bentheim die Frage aufgeworfen, ob die Carl-Diem-Straße in unserer Stadt nicht aufgrund der Verfehlungen des Namensgebers in der Nazizeit umbenannt werden sollte. Daraufhin wurden die Anwohner befragt, die sich nach Auskunft der Verwaltung ganz überwiegend negativ zur Umbenennung äußerten und besonders praktische Aspekte für ihre Haltung anführten. Auch der Hinweis auf historische Quellen, die Diems Verstrickungen in das System belegen, änderte an dieser Haltung nichts. Nach einigen Diskussionen in städtischen Gremien (Fraktion und Verwaltungsausschuss) wurde von mir (der Autor) aufgrund des eindeutigen Anliegervotums kein weitergehender Antrag gestellt. Das war soweit ein teilweise frustierender Vorgang, denn die Haltung der Anwohner war schon damals nach Studium der Geschichtsforschung schwer nachvollziehbar, ja geradezu ernüchternd. Ganz ehrlich: erschütternd. Andererseits gab es ermunternde Unterstützung für eine Namesänderung aus allen Fraktionen. – Nun, die Sache ruhte.
Was hat sich gegenüber der Situation im Jahre 2000/2001 geändert, um nunmehr in der entscheidenden Ratssitzung für eine Umbennenung zu stimmen? Zunächst kamen Anregungen hierzu von außen, nicht aus dem Rat heraus. Gerade die ausführliche Begründung eines jungen Bentheimers sorgte ebenso für eine erneute Diskussion wie eindeutige Meinungsbekundungen aus den Fraktionen und des Bürgermeisters. Und es gibt neue wissenschaftliche Stellungnahmen, so im Auftrage der Deutschen Olympischen Gesellschaft durch den Historiker F. Becker. Auszug aus einem Interview der Zeit im November 2011:
„ZEIT ONLINE: Was wiegt in der Bewertung der Person Diem schwerer: Seine Verdienste für den deutschen Sport oder seine Verstrickungen mit dem NS-Regime?
Becker: Wenn man heute die geschichtspolitische Frage stellt, ob Diem noch als Vorbild taugt, dann wirken seine Verfehlungen stärker. Es ist heutzutage nicht erträglich, jemanden zu ehren, der in seinem Leben viele antisemitische Äußerungen getätigt, der im Nationalsozialismus engagiert mitgetan und kurz vor Kriegsende eine Durchhalterede vor Hitlerjungen gehalten hat. All diese Dinge sind inakzeptabel und man kann sie nicht durch Verdienste aufwiegen.
ZEIT ONLINE: Besonders umstritten ist die Sparta-Rede, mit der Diem Volkssturmmänner und Hitlerjungen in die Schlacht um Berlin und somit in den sicheren Tod geschickt haben soll. Was macht Sie so sicher, dass er diese Rede auch wirklich gehalten hat?
Becker: Es gibt zwei Quellen, die diesen Sachverhalt unabhängig voneinander belegen. Da ist einmal der Zeuge Reinhard Appel, der als Hitlerjunge vor Diem gestanden hat. Er sagt, es soll eine flammende Rede gewesen sein. Dann gibt es zweitens ein Stichwortmanuskript von Diems eigener Hand. Darin wird die Rede skizziert. Diem sprach über die Jugenderziehung in Sparta, die militärisch geprägt war und Opferwilligkeit für das Vaterland forderte. Er verglich sie mit der Jugenderziehung in den Organisationen des NS-Staates. Während er diese Rede hielt, hörte man in Berlin schon das Artilleriefeuer der Sowjets, die an der Oder standen. In diesem Kontext konnte eine solche Rede nur als Durchhalterede verstanden werden.“
Das vollständige Interview kann hier nachgelesen werden:
http://www.zeit.de/sport/2011-12/interview-becker-diem-nazi
Auch wenn der Olympische Sportbund mit der Arbeit Beckers nicht gänzlich einverstanden war, hieß es doch in einer Erklärung vom 31.1.2012 eben des Olympischen Sportbundes; dass man sich „nicht zu einer ablehnenden oder zustimmenden Umgang mit Carl Diem durchringen könne und Namensgebungen oder -änderungen weiter den betreffeden Institutionen und Organisationen vorbehalten bleiben soll“ (zitiert nach Studien zur Geschichte des Sports, Lit Verlag, Münster 2012). Eben!
Der Autor stimmt der Einschätzung des Historikers zu: Carl Diem ist kein würdiger Namensgeber für eine Straße in Bad Bentheim. Wir wären besser dem Beispiel vieler Städte wie Köln, Münster und Frechen gefolgt und hätten die Straße umbenannt. Der Rat hätte die Entscheidung eines Vorgängerrates durchaus revidieren können. Die Entscheidung ist selbstverständlich demokratisch (nicht diktaktorisch wie die CDU-Ratsfrau Helena Hoon bemerkte) gefallen und gilt entsprechend. Die Diskussion im Rat verlief mit den Wortbeiträgen aus SPD, Grünen und CDU angemessen. Fraglich wird bleiben, ob eine breitere Befassung der Einwohnerschaft, zum Beispiel auch mit Schulprojekten, hilfreich gewesen wäre oder ob nicht eine längere Diskussion für unvertretbaren Unfrieden gesorgt hätte. Weitere Fragen drängen sich auf. Einige Beispiele: Warum fallen einzelne betroffene Anlieger (einzelne!) in Wort und Schrift dermaßen aus der Rolle und missachten Grundregeln des Anstands? Sollen wir Straßen überhaupt noch nach Personen benennen? Können wir, müssen wir Rückschlüsse daraus ziehen, welche Auseinandersetzungen uns erwarten, wenn wir anläßlich des Stadtrechtsjubiläums 2015 endlich die dunklen Seite der Stadtgeschichte aufarbeiten werden? Es bleibt spannend – und vielleicht auch kontrovers. Und das ist gut so!